Barrierefreie Arbeitswelt!?

Für mehr Inklusion am Arbeitsplatz


In Deutschland leben 81 Millionen Menschen, jede:r achte davon hat eine Behinderung. Wahrscheinlich sind es sogar noch mehr, denn nicht alle haben ihre Behinderung bei einer Behörde angegeben. Viele Arten von Behinderung kennen wir aus unserem täglichen Leben: Menschen die nicht sehen, hören oder gehen können. Es gibt allerdings auch viele Menschen, denen man ihre Behinderung nicht unmittelbar ansieht, wie zum Beispiel geistige und psychische Behinderungen oder Depressionen. Gesetze wie Artikel 3 unseres Grundgesetzes („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“), das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) oder die UN-Behindertenrechtskonvention sollen in Deutschland gewährleisten, dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Arbeitswelt für Menschen mit Behinderung ohne Probleme möglich ist.

 

Leider ist dies noch viel zu häufig nicht der Fall. Deshalb wollen wir diesen Monat gemeinsam hinschauen: Wo treffen Menschen mit Behinderung im öffentlichen Raum, der Arbeitswelt und dem Internet auf Barrieren? Welche Forderungen stellen Menschen mit Behinderung an ihre Arbeitgebenden, die Regierung und uns als Gesamtgesellschaft? Um wirklich etwas bewegen zu können, müssen wir erkennen, dass wir uns in einem ableistischen System befinden. Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung häufig auf diese reduziert werden und der Norm eines „normalen und gesunden“ Körpers nicht entsprechen, was häufig mit einer Abwertung der Person einhergeht – ob beabsichtigt oder nicht. Ganz viel von diesem Glaubenssatz hängt unter anderem mit unserem Leistungsgedanken zusammen, der unsere Organisationen und unser Miteinander prägt.

 

An dieser Stelle zeigt sich bereits der erste Schnittpunkt zwischen strukturellen Gegebenheiten und jedem:r Einzelnen von uns: Wir alle tragen ableistische Strukturen und festigen sie durch unser Handeln. Gemeinsam möchten wir lernen, wie wir dieses Handeln als solches erkennen und was wir besser machen können. Wir möchten euch ermutigen, Eure eigenen Glaubenssätze und Vorurteile zu hinterfragen. Gleichzeitig versuchen wir Euch in den kommenden Wochen konkrete Handlungsempfehlungen zu geben, zum Beispiel, wie man barrierefreie Postings auf Social Media erstellt oder an wen Ihr Euch wenden könnt, wenn Ihr Fragen zum Thema Barrierefreiheit habt.

 

Diese Handlungsempfehlungen könnt Ihr sowohl privat als auch beruflich nutzen. Denn auch in Unternehmen gibt es noch einiges zu tun. Hier werden wir etwas tiefer in die Praxis eintauchen. Wie könnt Ihr zum Beispiel als Führungskräfte durch inklusive Führung die Stärken und Potenziale all Eurer Mitarbeitenden fördern? Was sind Behindertenwerkstätten und was könnte an ihnen problematisch sein? Warum umgehen viele Unternehmen ihre Verpflichtung, Menschen mit einer Schwerbehinderung zu beschäftigen und zahlen stattdessen eine Ausgleichsabgabe? Wie kann Inklusion in Organisationen gelingen? 



Theoretisches

Ableismus

Der Begriff „Ableismus“ setzt sich zusammen aus dem englischen Wort „able“ (to be able = fähig sein) und „ismus“, was auf ein in sich geschlossenes Gedankensystem schließen lässt. Unsere Gesellschaft setzt bestimmte Dinge voraus, die als normal gelten, also die Norm sind. Menschen, die sehen, hören oder laufen können, gelten als „able“ – fähig und normal. Behinderte Menschen, die diese Fähigkeiten nicht besitzen, fallen somit aus der Norm heraus. Sie gelten als nicht normal oder werden sogar als minderwertig wahrgenommen.

 

Ableismus (im englischsprachigen Raum = Ableism) ist die alltägliche Reduktion einer Person auf seine:ihre Beeinträchtigung. Damit einher geht eine Abwertung (wegen seiner:ihrer Beeinträchtigung) oder aber eine Aufwertung (trotz seiner:ihrer Beeinträchtigung).

 

Und Ableismus ist allgegenwärtig. Er begegnet Menschen auf der Arbeit, bei ärztlichen Untersuchungen und vor allem im Alltag. Damit erleben Menschen mit Behinderung durch den Ableismus das, was Menschen mit Migrations-hintergrund durch den Rassismus widerfährt oder Frauen durch Sexismus erleben. In jedem Fall werden die Betroffenen nicht als gleichberechtigte Gegenüber wahrgenommen, sondern etikettiert und auf- oder abgewertet. Sprache ist ein wichtiges Instrument, um ableistischen Gedanken entgegenzutreten. Es gibt viele Formulierungen, die sich auf Menschen mit Behinderung beziehen, die diese abwerten. Sie zu ersetzen ist dabei jedoch meistens gar nicht so schwer: Statt „an den Rollstuhl gefesselt“ könnte man zum Beispiel „Person X sitzt im Rollstuhl oder benutzt einen Rollstuhl“ sagen. Natürlich verändert die Sprache nicht die tiefergehende Diskriminierung von behinderten Menschen, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es geht dabei um den respektvollen Umgang miteinander. Etwas das wohl jeder Mensch verdient hat.

Barrierefreiheit

In unserer Gesellschaft brauchen wir mehr Barrierefreiheit. Denn wo Orte, Räume oder Kommunikationsmittel nicht barrierefrei sind, bleibt Teilhabe am kulturellen und politischen Leben, an der Arbeitswelt und in der Freizeit verwehrt. Doch was bedeutet Barrierefreiheit eigentlich genau? Barrierefreiheit bedeutet die einfache Zugänglichkeit für alle Menschen unabhängig ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Barrierefreiheit umfasst sowohl räumliche Anforderungen in Gebäuden und Verkehrsanlagen, als auch technische und grafische Anforderungen in der Kommunikation und Informationsvermittlung.

 

Das heißt, dass Gebäude und öffentliche Plätze, Arbeitsstätten und Wohnungen, Verkehrsmittel und Gebrauchsgegenstände, Dienstleistungen und Freizeitangebote so gestaltet werden, dass sie für alle ohne fremde Hilfe zugänglich sind. Konkret bedeutet Barrierefreiheit also, dass nicht nur Stufen, sondern auch ein Aufzug oder eine Rampe ins Rathaus führen, dass Formulare nicht in komplizierter Amtssprache, sondern auch in Leichter Sprache vorhanden sind, und dass auch gehörlose Menschen einen Vortrag verfolgen können – zum Beispiel mit Hilfe eines:r Gebärdensprachdolmetscher:in. Außerdem muss bei der Definition auch die digitale Barrierefreiheit mitgedacht werden. Das bedeutet, Internetseiten müssen so gestaltet sein, dass jede:r sie nutzen kann. Dazu gehört zum Beispiel das Hinterlegen von Bildbeschreibungen für blinde Menschen und die Möglichkeit, Videos in barrierefreien Formaten abzuspielen.

 

Barrierefreiheit nutzt allen: Menschen mit und ohne Behinderung, Senior:innen, Kindern, Eltern und Menschen, die nur vorübergehend in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Und was Menschen mit Lernschwierigkeiten benötigen – nämlich Texte in Leichter Sprache oder mit Bebilderungen – nutzt auch vielen anderen: Menschen, die wenig Deutsch sprechen, die nicht oder kaum lesen können oder sich an einem Ort nicht auskennen. Barrierefreiheit geht Menschen ohne Behinderung auch deswegen an, weil sie irgendwann womöglich selbst auf gut zugängliche Gebäude, Leichte Sprache oder die Kommunikation über Computer angewiesen sind. Denn Tatsache ist: Nur vier Prozent aller Behinderungen sind angeboren. So gehen Alter und Behinderung oft einher: Gut ein Viertel der Menschen mit Schwerbehinderung ist 75 Jahre und älter, die Hälfte ist zwischen 55 und 75 Jahren alt. Das durchschnittliche Lebensalter steigt – für jede:n von uns. Ein Grund mehr, sich für ein Leben ohne Barrieren stark zu machen.

Inklusion

Der Begriff Inklusion hat seine Wurzeln im Lateinischen. Dort bedeutet das Verb includere einlassen und einschließen, das Substantiv inclusio bedeutet Einschließung und Einbeziehung. Das heißt, Inklusion beschreibt die Einbeziehung von Menschen und hat den Anspruch, dass jede Person ein aktiver Teil der Gesellschaft sein kann. In einer inklusiven Gesellschaft soll keine:r außen vor gelassen werden: Vielmehr werden Barrieren abgebaut, die die Teilhabe für alle erschweren. Zum einen betont Inklusion damit die Gleichheit der Menschen – wir alle haben gleiche Bedürfnisse und Rechte. Gleichzeitig berücksichtigt der Begriff der Inklusion die Unterschiedlichkeit der Menschen, die sich beispielsweise in unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, Geschlechterrollen, individuellen Fähigkeiten und Einschränkungen zeigt. Inklusion bedeutet, dass Personen sich nicht mehr integrieren und an die Umwelt anpassen müssen, sondern diese von vornherein so ausgestattet ist, dass alle Menschen gleichberechtigt leben können.

 

Spannend ist auch die soziologische Perspektive auf Inklusion: In der inklusiven Gesellschaft gibt es keine definierte Normalität, die jedes Mitglied dieser Gesellschaft anzustreben oder zu erfüllen hat. Normal ist allein die Tatsache, dass Unterschiede vorhanden sind. Diese Unterschiede werden als Bereicherung aufgefasst und haben keine Auswirkungen auf das selbstverständliche Recht der Individuen auf Teilhabe. Aufgabe der Gesellschaft ist es, in allen Lebensbereichen Strukturen zu schaffen, die es den Mitgliedern dieser Gesellschaft ermöglichen, sich barrierefrei darin zu bewegen. Inklusion ist demnach ein Prozess. Neben den notwendigen Rahmenbedingungen erfordert er eine kontinuierliche Reflexion. Veränderungen in den Strukturen, aber auch in den Haltungen und Einstellungen aller Menschen sind notwendig.


Praktisches

  • Bias Test: Der implizite Assoziationstest (IAT) ist ein Werkzeug, um eigene Einstellungen und Stereotype zu hinterfragen (für verschiedene Themen verfügbar).
  • Bilder fernab von Klischees: Gesellschaftsbilder.de ist eine Fotodatenbank für Redaktionen, Medienmacher:innen und Blogger:innen und alle Interessierte, die für ihre Arbeit Bilder fernab von Klischees suchen. Die Fotodatenbank soll ein Angebot sein, um die Vielfältigkeit der Gesellschaft abzubilden.

Rückblick auf unser Meet-Up: Neurodiversität und Arbeit

 Trotz entsprechender Qualifikationen sind viele neurodivergente Menschen (z.B. Autist:innen oder Menschen mit ADHS) in Deutschland arbeitslos. Arbeitsbedingungen und -strukturen sind häufig nicht so gegeben, dass neuro-divergente Menschen ihre Leistung gut abrufen und ihre Qualifikationen unter Beweis stellen können.

Deswegen sind wir mit Anja Pieper von Diversicon ins Gespräch gekommen: Welche Anpassungen können vorgenommen werden, damit die Arbeitswelt für neurodivergente Menschen inklusiver wird? Welche Strukturen und Stellenprofile schaffen mehr Klarheit, die schlussendlich sowohl neurodivergenten als auch sehr vielen anderen Personen zugutekommen?

Was wir gelernt haben: Egal, ob neurodivergente Personen in meiner Organisation arbeiten oder nicht – Maßnahmen, die Neurodiversität mitdenken, kommen am Ende allen zugute. Auf den Bildern unter diesem Text findet Ihr deshalb ein paar Gedanken und Impulse für eine inklusivere und barriereärmere Arbeitswelt, die neurodivergenten Personen den Arbeitsalltag erleichtern, aber auch uns alle bereichern können.

 

Reflexionsfragen

  • Hast Du einen Menschen mit Behinderung im Kollegium/Studium/Schulumfeld... im Freundeskreis... im Bekanntenkreis... in Deinen Feeds auf Facebook/LinkedIn/Instagram? Wenn nein, warum nicht?
  • Wie kannst Du durch Dein Handeln Menschen mit Behinderung unterstützen?
  • Wo siehst Du Menschen mit Behinderung in Deinem Alltag? Wo haben sie (keinen) Zugang?
  • Ist Dein Arbeitsplatz barrierefrei? Deine Wohnung? Dein Lieblingscafé?
  • Gibt es Statements, Regelungen oder andere Selbstverpflichtungen für inklusive Teilhabe in Deinem Unternehmen?
  • Wie viel weißt Du über verschiedene Behinderungen und wie sie den Alltag einer Person beeinflussen?
  • Was ist Dein Verständnis von Leistung? Anhand welcher Maßstäbe bewertest Du die Leistung von Dir oder anderen?

Inspirierendes

Was hat Euch inspiriert, Euch mit diesem Thema auseinanderzusetzen? Welche Bücher, Zeitschriften, Podcasts, etc. haben Euch zum Nachdenken gebracht? Was findet Ihr, sollte man gelesen haben, wenn man Barrierefreiheit am Arbeitsplatz fördern möchte?

 

Wir freuen uns, wenn Ihr Eure persönlichen Tipps mit uns und der Community teilt und sie in der Kommentarspalte notiert. Wir werden sie dann auf der Seite  "diverse Link- und Buchtipps" ergänzen. So entsteht am Ende dieses Jahres hoffentlich eine bunte und umfangreiche Informationsquelle, in der es eine Menge zu entdecken gibt.

 

P.S.: Auf der Seite mit den Link- und Buchtipps findet Ihr auch Inspirationen für die anderen Themen unseres DiversitYears und einen Vielfalts-Kalender mit wichtigen Terminen zum Thema Diversity!