Gespräch mit Nenad Čupić: Aufklärung und Bewusstseinsbildung hinsichtlich Klassismus

Nenad Čupić ist seit über 12 Jahren Trainer und Berater für Diskriminierungskritik und diversitätsorientierte Organisationsentwicklung und diskriminierungssensibler Coach. Im Rahmen unseres DiversitYears haben wir mit ihm über die Diversitätsdimension Klassismus gesprochen. Welche Maßnahmen er für einen klassismussensiblen Umgang Organisationen, Unternehmen und Einzelpersonen empfiehlt, erfahrt Ihr im Interview. Vielen Dank für das Gespräch, lieber Nenad!

Lieber Nenad, Klasse ist als Diversitätsaspekt und Klassismus als Diskriminierungsverhältnis noch relativ unbekannt, was genau versteht man darunter?

Aus dem Begriff Klassismus lässt sich bereits herauslesen, dass er etwas mit Klasse, Klassen und Klassenverhältnissen zu tun hat. Unter Klassismus wird die Diskriminierung auf Grund der Klassenzugehörigkeit eines Menschen verstanden. Mit dem Begriff Klasse wird die sozio-ökonomische Herkunft, Position und Gruppenzugehörigkeit eines Menschen innerhalb einer Gesellschaft verstanden. Diese umfasst unter anderem den Beruf, das Bildungsniveau, das Einkommen, das Vermögen, die Hobbies, den Dialekt oder Soziolekt eines Menschen sowie seinen Geschmack. Einzelpersonen, Familien und Menschengruppen werden anhand dieser Kategorien innerhalb einer Gesellschaft hierarchisiert. In dieser Hierarchie sind die Lebensweisen und Wertvorstellungen der Menschen, die über viel ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital verfügen, oben angesiedelt, sie gelten gesamtgesellschaftlich als erstrebenswert und als Norm.

 

Menschen mit vielen strukturellen Klassenprivilegien sind besser über ihre Rechte informiert und setzen ihre Interessen häufiger und erfolgreicher durch als sozioökonomisch benachteiligte Menschen. Der 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat diesen starken positiven Zusammenhang zwischen den Präferenzen der obersten Einkommensgruppe und der Wahrscheinlichkeit für den Eintritt einer Politikänderung eindrucksvoll bestätigt und damit diese systematische Ungerechtigkeit sowie Aushöhlung der Demokratie auf höchster politischer Ebene nachgewiesen.

 

Menschen aus der Arbeiter:innenklasse und wirtschaftlich arme Menschen, die über wenig ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital verfügen, sind in der gesellschaftlichen Hierarchie (der Klassen) unten positioniert. Diesen Menschen werden nicht selten Rechte sowie Rechtsansprüche verweigert, ihre Lebensweisen und Wertvorstellungen genießen keine hohe gesellschaftliche Anerkennung, werden abgewertet, stigmatisiert und unsichtbar gemacht. Interessierte Leser:innen finden im Einführungsbuch zu Klassismus von Andreas Kemper und Heike Weinbach weitere Bestimmungen des Begriff Klassismus. 

 

Um zu überprüfen, inwiefern Klassismus in Ihrem Leben wirkt, können Sie sich als Leser:innen folgende Fragen stellen: Habe ich Geld oder Eigentum geerbt bzw. werde es erben? Bin ich während meiner Kindheit und Jugend regelmäßig ins Museum, Theater oder die Musikschule gegangen? Habe ich während meiner Schulzeit an einer Sprachreise oder einem Schüler:innenaustausch von mehreren Monaten teilgenommen?  Wenn Sie als Leser:in diese Fragen bejahen können, dann ist das ein Zeichen dafür, dass Sie durch Klassismus privilegiert werden. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass sich privilegierte Menschen nicht selbst privilegiert fühlen müssen, um es zu sein. Häufig erleben Menschen mit klassenspezifischen Privilegien diese nicht als solche, sondern als eigenen Verdienst.

Ich habe Klassismus immer mit einer Diskriminierung assoziiert, die weiße Menschen betrifft. Ich glaube, das liegt daran, dass BIPoC und andere marginalisierte Gruppen wie Menschen aus der LGBTQAI+ Community sich häufig mit anderen Diskriminierungen rumgeschlagen, die eine zentralere Position in ihren Alltag einnehmen. Empfindest Du das ähnlich?

Was meine individuelle Bewusstseinsbildung in Bezug auf Diskriminierungsverhältnisse angeht, so habe ich mich persönlich zuerst mit Rassismus sowie meinen rassismusrelevanten Privilegien und Diskriminierungserfahrungen beschäftigt. Ich habe reflektiert, welche Rolle Rassismus in meinem Leben und meiner (beruflichen) Biografie gespielt hat. Kurz darauf begann meine bewusste, aktive und selbstkritische Auseinandersetzung mit Sexismus und mit (meiner) Männlichkeit. Erst danach begann meine absichtsvolle und gezielte Beschäftigung mit Klassismus durch Workshops, Austausch mit anderen Menschen und Lektüre einschlägiger Literatur zu Klassismus.

 

Ich würde argumentieren, dass Klassismus auch im Alltag von Schwarzen Menschen, People of Color, migrantisierten Menschen, Kindern, alten Menschen, gesellschaftlich behinderten Menschen, queeren, lesbischen, homosexuellen, bisexuellen, inter- und transgeschlechtlichen Menschen eine zentrale und sehr starke Rolle spielt. Jedoch besteht in der Gesellschaft ein breiteres und ausgeprägteres Bewusstsein sowie eine informiertere Sprachfähigkeit zu Rassismus, Sexismus, Cis-Hetero-Sexismus, Altersdiskriminierung oder der Diskriminierung gesellschaftlich behinderter Menschen, als zu Klassismus. Das verdanken wir vor allem jenen Menschen und sozialen Bewegungen, die sich seit Jahrzehnten gegen diese Arten der Diskriminierung einsetzen, sich politisches Gehör verschafft und eine Einfluss-nahme erkämpft haben.

 

Eine kollektive Bewusstseinsbildung in Sachen Klassismuskritik steht noch aus. Hierbei könnte auf die Erfahrungen anderer sozialen Bewegungen zurückgegriffen werden, die sich mit sozialer Gerechtigkeit und Klassenverhältnissen beschäftigen. Hinzu kommt, um es mit den Worten der letztes Jahr verstorbenen Schwarzen Kulturkritikerin, Feministin und Autorin, bell hooks, zu sagen, dass Klasse „das Thema [ist], bei dem wir alle verkrampfen, nervös werden, nicht sicher sind, wo wir stehen.“ Das Sprechen über Klassismus, (die eigene) Klassenherkunft und (die eigene) Klassenposition ist häufig mit Scham, Schmerz und Verdrängung verbunden.

Warum ist es wichtig, dass wir strukturelle Diskriminierungen intersektional betrachten?

Auf diese Frage kann ich mit einem Zitat der Schwarzen, lesbischen Mutter, Aktivistin und Poetin Audre Lorde aus dem Jahre 1982 antworten: „There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.“ Das bedeutet, dass es keinen mono-thematischen Kampf gegen strukturelle Diskriminierung und für intersektionale Gerechtigkeit gibt, weil wir keine mono-thematischen Leben leben. Deswegen ist es wichtig, strukturelle Diskriminierungen intersektional zu betrachten.

Was muss die Arbeitswelt konkret tun, um sich strukturell zu verändern und diskriminierungskritisch zu werden?

Zunächst möchte ich vor etwas warnen, was ich sehr häufig in der Zusammenarbeit mit Menschen und Organisationen erlebe. Nämlich eine Quick-Fix-Mentalität, die sich im Wunsch nach schnellen und vermeintlich einfach anmutenden Lösungen ausdrückt. Dem zu Grunde liegt eine lineare Ursache-Wirkungs-Kette ("richtig - falsch"). Komplexe Systeme, wie Unternehmen, lassen sich jedoch viel besser mit einem systemischen Weltbild verstehen und verändern. Es beachtet das Zusammenwirken und die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Teilen in einem System, bezieht Widersprüche mit ein und strebt nach der Integration sogenannter harter Faktoren (Fakten) und weicher Faktoren (Emotionen, Kommunikationsprozesse). Dies im Hinterkopf behaltend, können wir nun weiter darüber nachdenken, was in Unternehmen getan werden kann, um diskriminierungskritische und diversitätsorientierte Veränderungen in ihrer Struktur und Kultur zu bewirken.

 

Allgemein ist es wichtig ein Bewusstsein für Diskriminierung(skritik) und Klassismus(kritik) in den Unternehmen,  in der Ausbildung und der Entwicklung von Mitarbeitenden sowie Führungskräften zu schaffen bzw. zu steigern. Die eigene Praxis macht- und diskriminierungskritisch zu hinterfragen ist ebenso bedeutsam. Des Weiteren kann das Sprechen über Klassismus, die eigene Klassenherkunft, die eigenen Privilegien, die Klassenunterschiede innerhalb des eigenen Unternehmens, normalisiert und Räume geschaffen werden, in denen Menschen lernen, sich weiterzu-entwickeln und zu verändern. Dies kann z.B. mithilfe von Anti-Klassimus-Workshops, klassismuskritische Empowerment-Workshops oder einer Befragung zu Klassismus im Unternehmen realisiert werden.

 

Auf der Ebene der Struktur ist es möglich Unternehmensziele und die Unternehmensstrategie an soziale und ökologische Kriterien zu koppeln. So können Instrumente und Maßnahmen entwickelt werden, die Diversität, Inklusion und Nachhaltigkeit glaubhaft und langfristig fördern. Von zentraler Bedeutung ist die Etablierung und Durchsetzung fairer Arbeitsbedingungen mit angemessener Vergütung und bezahlten Praktika. Daneben kann jedes Unternehmen eine diskriminierungs- und klassismuskritische Leitlinie entwickeln und veröffentlichen, um die darin formulierten Inhalte (intern und extern) überprüfbar zu machen. Ferner können Unternehmen Berater:innen und Coach:innen engagieren, die diese in der diskriminierungskritischen und diversitätsorientierten Unternehmens-entwicklung unterstützen. Darüber hinaus kann jedes Unternehmen eine Anti-Diskriminierungs-Klausel oder Anti-Klassismus-Klausel in alle Verträge aufnehmen oder ein Verbot jeglicher Art von Diskriminierung in die Dienstvereinbarungen aufnehmen. Anregungen dazu finden sich auf der Webseite der Kanzlei Laaser oder www.antirassismusklausel.de.

 

Eine weitere Möglichkeit ist es, Menschen auch auf höhere Leitungsebenen zu lassen bzw. zu befördern, die aus der Klasse der ökonomisch armen Menschen, der Arbeiter:innenklasse oder unteren Mittelklasse kommen, die idealerweise macht- und diskriminierungskritisch agieren und somit als Vorbilder und change maker fungieren können. Das ist wichtig, weil die Leitungspositionen viel zu elitär und ausschließend sind. Der Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann hat beispielsweise festgestellt, dass seit dem Jahr 1970 die Führungspositionen in der deutschen Wirtschaft von Menschen besetzt werden, die aus den oberen drei bis fünf Prozent der Gesellschaft stammen. Für das Jahr 2018 hat er die 100 größten deutschen Muttergesellschaften systematisch betrachtet und festgestellt, dass bei den Vorstandschefs knapp 80 Prozent und bei den Aussichtsratschefs sogar mehr als 85 Prozent aus dem gehobenen Bürgertum und dem Großbürgertum stammen. Es braucht also ein Ende der Exklusivität.

Welche Maßnahmen helfen Personaler:innen bei Einstellungsverfahren, um klassistische Diskriminierung vorzubeugen?

Generell braucht es Aufklärung und Bewusstseinsbildung hinsichtlich Klassismus und klassistischer Diskriminierung. Ist dieses nicht ausreichend vorhanden, laufen viele Maßnahmen Gefahr zu kurz zu greifen. Da Personalentscheidung-en je nach Größe und Organisation des Unternehmens nicht selten auch von oder mit Führungskräften und Teammitgliedern getroffen werden, ist es gut diese und deren Sensibilisierung sowie Wissen zu Klassismus(kritik) mitzuberücksichtigen. 

 

Ich weiß, dass Stellen teilweise sehr eilig besetzt werden sollen und dass das Unternehmen eine Person will, die auf den ersten Blick ideal zum Stellenprofil passt, möglichst schnell anfangen und reibungslos arbeiten soll. Dieses von Zeitdruck und Effizienz getriebenes Handlungsmuster verunmöglicht oder erschwert effektive und langfristige Lösungen. Das ist also ein Plädoyer dafür, in Unternehmen genug zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen einzuräumen, um diese Lösungen zu entwickeln und nachzujustieren.

 

Vor dem Bewerbungsgespräch können Personaler:innen bereits in der Stellenausschreibung Personen mit Klassismus- oder Diskriminierungserfahrung durch entsprechende Formulierungen ausdrücklich ermutigen, sich zu bewerben. Sie können mit Recruiter:innen und Headhunter:innen eine klassimussensible Checkliste durchgehen bzw. entwickeln, welche gezielt die Ansprache und die Rekrutierung von Menschen mit Klassimuserfahrungen beachtet und in ihren Lebensläufen oder Social Media Profilen wertvolle Potenziale und Ressourcen erkennt. Ebenso kann bei Stellenaus-schreibungen darauf geachtet werden, dass bei den Anforderungen inklusive Formulierungen verwendet werden. Auch die Frage danach, in welchen Netzwerken und über welche Kanäle ich die Stellenausschreibung veröffentliche, ist bedeutend.

 

Bei der Sichtung der Unterlagen und im Bewerbungsgespräch kann ich als Personaler:in selbstkritisch beobachten, welche unbewussten Vorannahmen ich tätige und wo ich von meinen Vorurteilen eingenommen werde, um mir diese bewusst zu machen und aktiv dagegen steuern zu können. Wie reagiere ich auf den Namen, den Dialekt, den Soziolekt, den Kleidungsstil oder den Habitus – verkürzt gesagt: die Umgangsformen und das Auftreten – der Person? Wie reagiere ich (innerlich), wenn ich erfahre, dass die Person mal (länger) arbeitslos war (und Hartz IV bezogen hat)? Gelten Menschen aus der Arbeiter:innenklasse oder ökonomisch arme Menschen in meinem Unternehmen als „bildungsfern“, „leistungsschwach“ oder gar „asozial“?

 

Klassistische Botschaften werden oft in einer versteckten und subtilen Form vermittelt. Die weiße Publizistin Anja Meulenbelt hat in ihrem Buch "Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus" einen Satz geschrieben, der in Bewerbungssituationen immer mitgedacht werden sollte: „Was oft als Charaktereigenschaft verstanden wird, wie zum Beispiel Mangel an Durchsetzungsvermögen, an Ehrgeiz oder an Intelligenz, ist in Wahrheit der Mangel einer ganzen Gruppe an einer Zukunftsperspektive.“ Damit macht sie auf die verinnerlichte Unterdrückung bei Menschen mit Klassismuserfahrungen aufmerksam. Im Bewerbungsgespräch oder davor kann ich mir also überlegen, welche systemischen Fragen ich stellen kann, die die Person dazu ermuntern könnten, mehr von sich, ihren Erfolgen und Stärken zu erzählen und welche Herausforderungen sie gemeistert hat, die wiederum für die Stelle von großen Nutzen sein könnten.

 

Nach dem Bewerbungsgespräch und der Einstellung einer Person mit Klassismuserfahrungen, gilt es sich zu bemühen, ein diskriminierungskritisches Arbeitsumfeld zu bieten. Was dabei alles zu berücksichtigen ist, können wir dann in einem zweiten Interview besprechen.

 

Bild: China Hopson

 


 Interview: Nielab Juyanda-Nassery ist Mitgestalterin bei CO:X. Sie beschäftigt sich privat und beruflich mit den Themen Diversität und Inklusion und möchte Menschen und Unternehmen auf die unendlichen Potenziale einer diversen und inklusiven (Arbeits-)Welt aufmerksam machen und sie darin unterstützen Vielfalt bewusst zu leben. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Stefanie Wilke (Montag, 28 Februar 2022 12:03)

    Herzlichen Dank für dieses gehaltvolle Interview. Als alleinerziehende und somit auch finananziell prekär gestellte Mutter (zu viel Monat am Ende des Geldes) habe ich mitunter Benachteiligung im Berufsleben empfunden (also auch erfahren). Das fängt ja schon bei der Kleidung an. Wer keinen Ehering trägt und Teilzeit arbeitet, ist in Deutschland noch immer (zu häufig) von den Führungspositionen ausgeschlossen. Dabei müssen Menschen z.B. ohne Erbe oder einer "schwierigen" sozialen Herkunft viel mehr Fähigkeiten trainieren und abrufen können und wären daher im Management sicher gute Impulsgeber. Klassismus ist ein unfassbar wichtiges Thema und ich bin sehr froh, dass es aus der Nische kommt.